Ausgesuchte Fans bekamen “Thumbs”, die erste Single aus Lucy Dacus‘ drittem Album, auf Videokassette zugeschickt. Ob sie diese auch abspielen konnten? Wohl kaum. Viele Anhänger der Songwriterin aus Virginia dürften höchstens die Spätphase der VHS-Kultur bewusst erlebt haben. Und trotzdem passt ein nostalgischer Titel wie “Home Video” gut zu dieser Platte, deren anschaulichen und eindringlichen Erzählungen von Bibelcamp-Erlebnissen, schüchternen Parkbank-Romanzen oder einem filmverrückten Schulfreund ein Coming-Of-Age-Flair anhaftet. Das beginnt mit der Single “Hot & Heavy”, in der ein vertrauter Ort ihrer Jugend Dacus die Erinnerungen in den Kopf und das Blut ins Gesicht treibt. Sie erkennt, dass sie nicht mehr die gleiche Person ist wie früher, ein Mädchen, das – wie auch Boygenius-Kollegin Julien Baker – christlich geprägt in den Südstaaten aufwuchs, sich als Zwölfjährige in der “VBS” (Vacational Bible School) bereits im Himmel sah und über die sich als queer identifizierende Musikerin, die sie später werden sollte, sicher die Nase gerümpft hätte. Eine gütige, geradezu marienhafte Ausstrahlung hat sich Dacus allerdings erhalten und auch ihre sanfte Stimme wirkt stets, als könne sie kein Wässerchen trüben. Doch der Eindruck täuscht: Wenn sie im dunkel dräuenden “Thumbs” fantasiert, dem nie präsent gewesenen Vater einer geliebten Person die Augäpfel einzudrücken, stellen sich einem die Nackenhaare auf. Und in “Christine” veranlasst sie ihr Beschützerinstinkt gegenüber einer Freundin, die sich mit dem falschen Mann abfinden will, zu der Aussage: “But if you get married, I’d object/ Throw my shoe at the altar and lose your respect/ I’d rather lose my dignity/ Than lose you to somebody who won’t make you happy”. Auch musikalisch schlägt Dacus vielschichtige Töne zwischen zartem Singer/Songwriter-Folk und grungigem Indierock an, neuerdings erweitert durch atmosphärische, aber nicht aufdringliche Synthie-Texturen. Beispiel: die berückende Fast-Akustik-Ballade “Cartwheel”, die ein zusätzliches Kreativsternchen für ihren nur angetäuschten Schlagzeugeinsatz bekommt. Schön auch der kleine Noise-Exkurs, der in “VBS” auf das Stichwort Slayer folgt. Beim Übergang von der heimeligen Singkreis-Nummer “Going Going Gone” zum – völlig unnötig – autogetunten “Partner In Crime” knirscht es dann zwar im Gebälk. Aber das ist ein kleiner Ausrutscher auf einem Album, das einen ansonsten mit einer spannenden Mischung aus Verletzlichkeit und Härte in den Bann zieht.