Viereinhalb Minuten sind eine Menge Zeit im Rock. Viereinhalb Minuten sind mehr Zeit, als man für eine durchschnittliche Single braucht. Viereinhalb Minuten sind mehr Zeit, als man für ein ganzes Album braucht – zumindest, wenn man Mike Patton ist. Death Cab For Cutie sind nicht Mike Patton. Doch sie sind auf dem besten Weg, eine ähnliche Gleichgültigkeit gegenüber den Gesetzen und Gepflogenheiten der Populärmusik zu entwickeln. Denn Death Cab For Cutie schreiben neuerdings “Singles”, die über acht Minuten lang sind und die Hälfte ihrer Spielzeit allein darauf verwenden, diesen einen magischen Moment bei Zählerstand 4:33 vorzubereiten, an dem Ben Gibbard endlich zu singen beginnt. “How I wish that you could see the potential/ The potential of you and me/ It’s like a book elegantly bound/ But in a language that you can’t read… just yet.” Doch die eigentliche Sensation ist nicht, was nach diesen ersten viereinhalb Minuten von “I Will Possess Your Heart” passiert, dem zweiten und besten Song des sechsten und besten Albums von Death Cab For Cutie. Die eigentliche Sensation ist, was in diesen viereinhalb Minuten passiert; wie sich Klavier, Gitarre und Vibrafon über dem zäh mäandernden Basslauf umgarnen, wie die Spannung steigt mit jedem neuen Anlauf, den sie nehmen; wie Death Cab For Cutie den Ausbruch des Songs ein ums andere Mal antäuschen und dann doch wieder hinauszögern, als hätten sie alle Zeit der Welt. Das ist Prog mit Indie-Mitteln – die Symbiose zweier Rockspielarten, die selten probiert wird und noch seltener gelingt. Zuletzt glückte es den Decemberists mit “The Crane Wife”, der anderen großen amerikanischen Indierockband, die davon besessen scheint, ihre über die Jahre perfektionierten Songwriting-Prinzipien über den Haufen zu werfen. Mit Death Cab For Cutie ist der Prog-Fimmel etwa zur gleichen Zeit durchgegangen. Schon “Plans” deutete 2005 viel von dem an, was nun auf “Narrow Stairs” seinen – vermutlich nur vorläufigen – Höhepunkt findet: die üppigen Arrangements (“You Can Do Better Than Me”), die schleichende Dramaturgie (“Grapevine Fires”), die virtuos-instrumentalen Schlussspurts (“Pity And Fear”). Vor allem aber verliert die Band in keinem Moment den Song an sich aus den Augen. So hoch sie auch türmen, so tief sie blicken, so freigeistig sie sich der Musik auch nähern – in letzter Konsequenz bleibt “Narrow Stairs” das dichte, pointierte, so stimmige wie stimmungsvolle Gitarrenalbum, für das die meisten Bands wohl morden würden. Death Cab For Cutie hingegen muss all das zugeflogen sein. “Viele Dinge sind im Studio zum allerersten Mal passiert”, sagt Gitarrist und Produzent Chris Walla, “wir waren selbst überrascht.” Der gute alte Sieg der Spontaneität also? Künstlerisch in jedem Fall. Und wenn es nur mit einem Funken Gerechtigkeit zugeht in der Welt, wird sich “Narrow Stairs” auch kommerziell nicht als der “Karrierekiller” erweisen, als den man es in der US-Presse bereits bezeichnet hat.
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