Theatralik und Pathos. Eine Zwanzigjährige aus Little Rock will Goth Rock für New-Metal-Kids salonfähig machen. Allerdings ist das Konzept durchschau- und voraussehbar. Ob Amy Lee lieber Type O Negative oder Meat Loaf mag? Oder Tori Amos-Scheiben neben europäischen Nightwish-Importen im Schrank stehen hat? Interessante Frage. Und Spekulation. Fakt ist, Frau Lee kann singen. Obwohl stimmlich prädestiniert für Euro-Opern-Metal, gehen Evanescence einen Schritt weiter und betonieren ihre schweren Keyboardteppiche mit modern-moderatem New-Metal-Sound zu. Goth Rock für Linkin Park-Fans, die an der ersten Single “Bring Me To Life” (auch auf dem “Daredevil”-Soundtrack zu finden) ihre helle Freude haben werden, obwohl sie nicht repräsentativ für das komplette Album ist. Darauf finden sich nämlich auch Ausflüge ins Celine Dion/Whitney Houston-Lager (“My Immortal”, “Hello”), bei denen der Schmalz fingerdick aus den Boxen quillt. Dennoch – die Kombination an sich hat irgendetwas Morbides, dem man sich auch bei Sonnenschein schwer entziehen kann. Eine Platte, die ganz klar polarisieren wird. Wenn man dann noch weiß, dass Josh Freese auch hier seine Stöcke im Spiel hatte, kann man vor soviel frechem Kalkül und eiskalter Berechnung nur den Hut ziehen. Erfolg ist programmierbar, wer würde das nicht unterschreiben?
Jörg Staude 7
Oh je, Goth-Pop mit Frontmädchen. Nein, wir reden hier nicht von HIM, sondern von Evanescence, die in den USA schon derbe durchgestartet sind, und, so steht es zu befürchten, einem auch hierzulande bald allerorten entgegen schallen werden. Denn, und das muss selbst Fürsprecher Staude einräumen, die Songs von Evanescence sind auf eine möglichst breite Zielgruppe zugeschnitten: Für New-Rock-Fans, die ansonsten zu Linkin Park und P.O.D. die Sau rauslassen, gibt’s die Single “Bring Me To Life”, Formatradio-Freaks dürfen sich über “My Immortal” freuen, Anhänger von Klageweibern wie Tori Amos oder Heather Nova kommen bei “My Last Breath” auf ihre Kosten, und Düsternasen, die normalerweise zu den Klängen von HIM oder The Gathering leiden, werden mit “Everybody’s Fool” oder “Tourniquet” bestens bedient. Alles gut also? Nun ja, nicht ganz, denn wenn man sich nicht einer der angepeilten Käuferschichten zugehörig fühlt, muss man, um “Fallen” auf voller Länge durchzuhalten, ziemlich starke Nerven mitbringen. Denn auf selbige geht einem umgehend Amy Lees Sirenengesang und das kaum kaschierte Kalkül, das hinter diesem Album steckt. Da kann auch Tausendsassa Josh Freese beim besten Willen nichts mehr retten – das ist hier Folter für die Ohren.
Falk Albrecht 2