Auch wenn man nicht im Hinterkopf hat, dass “Radical” dank Corona zwei Jahre im Schrank liegen musste, bis es veröffentlicht werden konnte, hört es sich trotzdem wie ein Manifest des Aufatmens an. Klar, Every Time I Die klangen schon immer, als wären Kneipenschlägerein in den Mangrovensümpfen der USA das beste Hobby der Welt, doch im Gegensatz zu vielen Genrekumpels sind Every Time I Die einen Ticken klüger. Klügeres Songwriting, das trotz allem Chaos Küsschen verteilt und einen an der Hand in den nächsten Song führt. Klügere Texte, die nicht nur in die Breite, sondern auch in die Tiefe gehen, bis sie einem klar gemacht haben, welchen Mix aus Selbstzweifeln und Verwirrung die Band gerade mit sich herumträgt. Selbst hier legt “Radical” noch einen drauf, denn vier Jahre Trump-Regierung gehen an einer gesellschaftlich aufmerksamen Band wie Every Time I Die nicht spurlos vorbei und führen damit zum wohl politischsten Album, das die Band aus Buffalo, New York bislang hervorgewütet hat. Wer jedoch erhobenen Zeigefinger erwartet, der kann beruhigt sein: Every Time I Die brennen einmal mehr ihre Liebe zu breitbeinigen Riffs, den Schalk im Nacken von ungewöhnlicher Rhythmik und den unbedingten Willen zur großen Melodie zu einem Destillat, das bei Einnahme das Blech wegfliegen lässt. Ohne Witz: Wie viel Spaß kann eine Platte machen? Die Antwort ist: Ja! Thrash-Metal? Na klar! Southern Rock? Aber gerne! Octaver-Riffs zäh wie Teer? Mach ‘nen Haken dran, Habibi. “Radical” klingt, wie sich Gitarrist Andy Williams zweites berufliches Standbein anfühlt: wie eine riesige Wrestling-Show. “Dark Distance” macht als Feedback-Opener und mit der Punchline “Spare only the ones I love, slay the rest” schon klar, welche Saiten aufgezogen werden, bevor man sich von Trommelfeuern wie etwa “Sly”, “Colossal Wreck” oder “Desperate Pleasures” durch die erfreulich ergiebigen 16 Songs von “Radical” prügeln lässt. Wenn man denkt, dass man abklopfen will, weil man keine weiteren Ohrfeigen mehr verträgt, kommt ein Song wie “White Void” um die Ecke, der einen im Stadionformat auf herrliche Refrains bettet, bis sich die Wunden geschlossen haben. Zwischendrin schauen alte Bekannte vorbei wie Ex-The Chariot und ’68-Schreihals Josh Scogin auf “All This And War” oder Andy Hull von Manchester Orchestra, der einen auf “Thing With Feathers” mit seinem unvergleichlichen Timbre abholt. Letzteres Stück fällt in die Kategorie Songs, von denen es immer einer auf ein Every-Time-I-Die-Album schafft, die zwar untypisch sind, das Bandnaturell aber nie verraten. “Radical” hat das Zeug zum Post-Corona-Soundtrack. Es ist das tongewordene Zerren an der Leine, die einen hält, das akustische Tür-Eintreten jener Liveclubs, in denen die musikalische Erlösung wartet. Es ist die Ausformulierung all der Unsicherheiten, die diese seltsame Zeit und die Welt prä-Corona mit sich brachte. Und das Versprechen, dass es ein Leben danach gibt. Und das ist schön.
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