Fat White Family
Forgiveness Is Yours
Auch 2024 spielen Fat White Family noch mit Fascho-Ästhetik und Tabubrüchen wie Kannibalismus wie in “Bullet Of Dignity” sowie obszönem Hauchen. Für eine Band, die durch zahllose Grenzüberschreitungen seit dem Debütalbum “Champagne Holocaust” überhaupt erst zu ihrem Status kam, ist die Platte aber vergleichsweise harmlos.
Zum eigenen Kodex muss sie trotzdem passen. Nur wenige andere Bands würden es schließlich wagen, eine knapp vierminütige Spoken-Word-Abhandlung über die betäubungslose Beschneidung des eigenen fünfjährigen Bruders von Free-Jazz-Flächen begleiten zu lassen. “Today You Become Man” heißt dieses unruhig drängelnde Stück, das in der Mitte einer Platte voller verstörender Buzzwords und Soundflächen thront. Irgendwo im Dickicht lauert auf “Forgiveness Is Yours” immer eine Bestie, egal ob im nebligen, von Bläsern getragenen “John Lennon” oder dem blubbernden Albtraum-Tagebuch “Visions Of Pain”.
Dieser düstere Unterton ist sicherlich nicht neu im Fat-White-Family-Kosmos, speist sich dieses Mal aber auch durch eine Zäsur in der Bandgeschichgte: Noch während der Produktion der Platte verlässt Sänger und Gründungsmitglied Saul Adamczewski die Band, unter den Geschwistern Lias und Nathan Saoudi kommt es ebenfalls zum Streit. Angesichts dieser Spannungen wirken Momente wie das ungewöhnlich sonnige “What’s That You Say” fast sarkastisch. Gleichzeitig katapultiert dieser Hintergrund Fat White Family in eine neue Ära, die sich in exotischen Bläserarrangements suhlt (“Bullet Of Dignity”) oder wie ein Elefant im New-Wave-Laden durch die Gegend taumelt (“Feed The Horse”).
Das sorgt für große Dynamik und viele Stimmungsbilder, die so selbst für die ohnehin eloquente Band Neuland sind. Dazu murmelt und stöhnt Saoudi mehr Schockrock als Post-Punk tief in die Ohrmuschel hinein (“Polygamy Is Only For the Chief”), nur um anderer Stelle den croonenden Storyteller oder den furiosen Entertainer (“John Lennon”) zu mimen. Im mehrdeutigen Wiegenlied “You Can’t Force It” kommt dieses bisweilen anstrengende Album schließlich auf den Punkt, das Blues, Free Jazz und New Wave mit 60er- und Psychedelic-Ästhetik vermischt. Es ist die unstete Momentaufnahme einer Band, die es so heute nicht mehr gibt. Und die Basis für eine Performance, die die Konzertbühnen dieser Welt erneut ins Wanken bringen will.
Das steckt drin: David Bowie, Pulp, Scott Walker