Tradition und Fortschritt in einem: “Digimortal”, das aktuelle Werk der Westcoast-Amis, übt sich weiterhin in der Verschmelzung von scharfen Bassdrum-Kaskaden, hyperbrutalen Stakkato-Riffs, Gitarren-Wänden und Sci-Fi-Stories, wagt aber gleichzeitig stärker denn je die Integration nachvollziehbarer, melodischer Refrains. Ja, man hat dem Bastard mehr Leben eingehaucht. Und besser als hier ist dem Quartett der Spagat zwischen Mensch und Maschine, Halbleiter und Marshall-Stack noch nie gelungen. Entpuppen sich der Opener “What Will Become” sowie das nachfolgende “Damaged” noch als mit Schlagzeug-Gimmicks und krummen Taktwechseln vollgestopfte Paradebeispiele herkömmlicher FF-Songkultur, so erweist sich der Titeltrack als janusköpfiges Meisterstück: Auf eine unerbittliche Strophe folgt ein harmonisch ausgecheckter Pop-Chorus, den Burton C. Bell mit feinen Harmonie-Gesängen krönt – im Tal der Finsternis geht die Sonne auf! Auch die erste Auskopplung “Linchpin” überrascht nach 50 Sekunden mit knallhart auf den Punkt zementierter Hookline-Kunst. Mit “Invisible Wounds (Dark Bodies)” wiederum gelingt Fear Factory gar eine hymnische Halbballade, ohne dass die Erzeuger deshalb rot werden müssten. Und selbst bei der Auswahl eines musikalischen Gastes beweist die Band ein glückliches Händchen: Cypress Hills B-Real nämlich passt in die zwischen Androhung und schierer Wut changierende Crossover-Bremme “Back The Fuck Up” wie Arsch auf Eimer. Spiel, Satz und Sieg.
10/12 Patrick Großmann
Eine Band schaut seit Jahren starr in die Zukunft – auch das ist Stagnation. Als “Obsolete”, der Nachfolger zum immer noch besten, weil damals revolutionären “Demanufacture” erschien, drängte sich erstmalig der Gedanke auf, dass Fear Factory zu einer Hit-abhängigen Band zu verkommen. So etwas passiert, wenn sich auf einem Album vier herausragende Stücke und sonst viel Leerlauf befinden, was das Quartett im Nachhinein ja selbst zugegeben hat. Auf “Digimortal” nun fehlen selbst diese Hits. Die als großer Fortschritt bezeichnete Tatsache, dass die Band sich nicht mehr in epischen Kompositionen verliert, heißt im Klartext doch nur, das die Hälfte ihrer Magie verschwunden ist, sprich die aufwendigen und anspruchsvollen Arrangements. Ganze zwei Lieder kommen an die einstige Klasse heran: die Halbballade “Invisible Wounds” und die erste Single “Linchpin”. Ansonsten dominieren Reißbrettmelodien und vor allem eine völlig durchgerittene Grundidee: Das Konzept Mensch trifft auf Maschine wärmen Fear Factory nun schon zum dritten Mal auf, zudem das neue Cover – ein Menschensymbol in einem Computerchip – die bisher mit Abstand amateurhafteste visuelle Umsetzung dessen ist. Der Verdacht, dass die vier auf der Suche nach dem großen Erfolg in den USA sind, der durch Acts wie Slipknot in reichbare Nähe rückte, und sie eine Riesenangst haben, den Platz in ihrer Metal-Nische zu verlieren, scheint verdammt groß. Und wem dieses Urteil zu weit geht, der sollte jedenfalls zugestehen, dass FF künstlerisch stagniert sind. Man könnte aus einer derartigen Position so viel innovativere, aggressivere Musik machen. Schade.
6/12
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