Gastr del Sol
We Have Dozens Of Titles
Ihre Zeit war kurz, aber bahnbrechend. Von 1993 bis 1998 veränderten die Chicagoer, was mit überwiegend instrumentaler Musik gesagt werden kann. Eine dröhnende Akustikband, die in der Freiform Post-Rock, Avantgarde, Jazz und Folk miteinander verband – so die Vorstellung von Bandgründer David Grubbs, der dafür aus seiner Post-Hardcore Band Bastro zunächst Schlagzeuger John McEntire und Bassist Bundy K. Brown einbrachte. Als diese beiden zur Konkurrenz von Tortoise abwanderten, stieß schließlich Tausendsassa Jim O’Rourke dazu.
Von da an war alles willkommen, wenn es nur anders war. Im Duo schufen O’Rourke als Multi-Instrumentalist und Produzent und Grubbs als erfahrener Komponist und talentierter Gitarrist gleichermaßen Ungehörtes wie Unerhörtes. Ein Teil des Charmes lag und liegt im beständigen Wandel und der bedingungslosen Repetition. “The Seasons Reverse” schleicht knappe acht Minuten um ein und dasselbe Gitarrenmotiv. Bei der vorliegenden Liveaufnahme fehlen im Vergleich zur Studioversion allerdings Schlagzeug und Gesang. Es ist nur ein Beispiel, wie sehr die Band im Livekontext der Improvisation verfiel und ihre Stücke immer wieder neu erfand.
Visionär und mit den Wassern des Jazz gewaschen, ist auch “Quietly Approaching” mehr mystisch aufgeladene Stummfilmvertonung als Song. Die Klanglandschaften spielen mit Minimalismus, mit komplexen Rhythmen, unkonventionellen Harmonien und unvorhersehbaren Strukturen, die jeder Erwartungshaltung Schnippchen schlagen. Von der im Post-Rock heute überstrapazierten Leise-Laut-Formel könnten Gastr Del Sol kaum weiter entfernt sein. Dass sich der nächste Ton, der nächste rhythmische Schlag kaum antizipieren lässt, zeigt auch die Liveversion des elfminütigen “Blues Subtitled No Sense Of Wonder”, von ihrem Opus magnum “Camoufleur”, das 1998 ihr letztes Studioalbum sein sollte und unter dem Einfluss der Musique concrète als Höhepunkt ihres Schaffens gilt.
“We Have Dozens Of Titles” öffnet nun mit einer Stunde bisher unveröffentlichter Liveaufnahmen sowie einer weiteren Stunde Studioaufnahmen von seltenen Singles und EPs einen Spalt in den zeitlosen Kosmos dieser Band. Die meisten der Livemitschnitte stammen vom letzten gemeinsamen Auftritt des Duos und werfen ein wunderbares Schlaglicht auf einige der noch im Entstehen begriffenen “Camoufleur”-Stücke, die sie damals in radikal anderer Form präsentierten.
Das steckt drin: Bastro, Jim O’Rourke, Tortoise