Inspiriert ist “Kollaps” von zwei Dingen: Zum einen vom 2005 erschienenen, gleichnamigen Buch des Anthropologen Jared Diamond, der darin die Ursachen für den Untergang historischer Zivilisationen untersucht und als wichtigste Gründe Umweltschäden und Klimaschwankungen ausmacht. Die aktuelle “Fridays For Future”-Bewegung, die dazu auffordert, den Klimawandel aufzuhalten, ist das andere und nimmt in vielen Songs die Erzählerrolle ein. Raum für Mehrdeutigkeit lassen The Hirsch Effekt in ihrer Wortwahl keinen: Die als Verweis auf Greta Thunberg vornehmlich in Schwedisch gehaltenen Songtitel bedeuten übersetzt etwa “Krise”, “Angst”, “Dürre” und “das Auto”, die Klagepunkte in “Domstol” (“Gericht”) sind eindeutig. “Ich habe es wirklich versucht/ Bitte glaubet mir”, beteuert zu Blastbeats und Doublebass ein alter Mann aus dem Norden (“da wo einst Stadt war und heut ist das Meer”), als er der zukünftigen Generation erzählt, “von früher, als noch Zeit übrig war”. Dann macht der Mathcore plötzlich Pause. In die Stille rückt eine Rede, in der ein Wutbürger etwas von “Klimasektenanhängern” und deren “geistig behinderter” Führerin sächselt und dafür schallenden Applaus erntet. Die damit wohl gemeinte Thunberg zitieren sie in “Deklaration” mit ihrer Rede bei der United Nations Climate Change Conference 2018, mit der sie weltweit berühmt wurde: “Der Wandel wird kommen/ Ob ihr das mögt oder nicht.” Die Hannoveraner betten die Zeilen als langsam gesungenen Refrain in einen der härtesten und vertracktesten Songs der Platte, der mit seinen Stakkato-Parts manchmal an System Of A Down erinnert. Auch das folgende “Allmende” ist ein für die Band typischer Mathcore-Brecher mit allerhand rhythmischen Verrenkungen. Das auf den Opener folgende “Noja” (“Angst”) sei “der Versuch gewesen, einen Delay-Effekt auf eine bestimmte Art und Weise einzusetzen, von der Steven Wilson in einem Rig-Rundown schwärmt”, schreibt das Trio. Doch die Frickelei bleibt diesmal im Hintergrund: Nach dem Streichersatz “Moment” werden The Hirsch Effekt zur zweiten Hälfte des Albums zugänglicher denn je. “Torka” pumpt elektronische Beats und Synthies, die sarkastische Auto-Hymne “Bilen” fußt bewusst auf geradlinigen Rammstein-Riffs. Und das melancholische Finale “Agera” (“agieren”) findet seinen Höhepunkt mit einem Kinderchor, der singt: “Ein kleiner Schritt rückwärts/ Oder ein letzter überhaupt.” Es wäre schrecklich ironisch, würde diese Botschaft vom Chaos drum herum übertönt.
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