Es sind Zeilen, die einen erschaudernlassen: “So gesehen also nichts Neues auf dem Planeten, wenn man den Zahlen glauben will, hilft nur noch beten.” Oder auch: “Das real life ist den Hatern ins Netz gegangen.” Beide Textproben stammen aus dem neuen Distelmeyer-Lied “Zurück zu mir”, einer wenig komplexen Komposition über das Unheil, das die digitale Kommunikation über die Menschheit bringt. Distelmeyer findet den Ausschaltknopf nicht! Kann da mal jemand helfen? Moment, sagen jetzt die Freunde der Band Blumfeld, bei deren Frontmann geht’s doch neben dem Individuum immer auch um die Gesellschaft, genauer gesagt um die Wechselbeziehungen zwischen dem Ich und den beiden Kollektivkategorien “wir” und “die anderen”. Das stimmt. Oder besser: Das stimmte. “Gefühlte Wahrheiten”, seine erste Platte mit neuen Songs seit 13 Jahren, suggeriert schon im Titel, dass er in diesem Fall die Emotion über etwas stülpt, was faktisch und logisch gewonnen werden sollte. Der Ansatz einer “gefühlten Wahrheit” führt in Gesellschaften zwangsläufig zu Problemen, weil jeder Mensch Gefühle hat, aber nur die wenigsten die Wahrheit kennen. Weshalb es zu genau der babylonischen Rechthaberei kommt, der Distelmeyer im Stück “Zurück zu mir” entkommen möchte. Was ist das, Dialektik oder Widerspruch? Darüber lässt sich reden, das ist gut, dafür taugen seine Songs also immer noch. Das Problem an der Platte ist jedoch, dass die Motive im Verlauf des Albums so sehr verschwimmen, dass man sich unfassbar langweilt. Was für die Texte, vor allem aber für die Musik gilt. “Gefühlte Wahrheiten” beginnt mit einem “Tausend Tränen tief”-Rip-off “Komm (So nah wie du kannst)”: Distelmeyer kopiert sich selbst, das ist besser, als wenn es andere tun. Es folgen zwei Pop-Rock-Stücke, dann “Im Fieber”: Distelmeyer spielt Softrock, es grüßen Steely Dan und Prefab Sprout, ein großartiger Song. Dieser halbwegs moderne Teil des Albums endet mit dem R’n’B-Pop “Tanz mit mir”, auch diese Übung gelingt ihm. Ab “Nur der Mond” kippt das Album ins ewige Blues-Schema, drei Songs singt er auf Englisch (was er kann, wenn nur die Lieder besser wären), der Text des 11 Minuten langen “Nicht einsam genug” bietet gelungene Passagen zum Thema Selbstisolation, aber was nützt die schönste Erzählung, wenn sie klingt wie schales Bier schmeckt? Distelmeyer wählt die Erzählform des Blues bewusst, sie soll seinen gesellschaftsbeobachtenden Texten dienen, an deren Ende die Liebe steht. Aber: “It ain’t Bob Dylan, baby!”, sondern kulturpessimistischer Boomer-Beef, so interessant wie die Dienstags-FAZ.
weitere Platten
Songs From The Bottom Vol. 1
VÖ: 12.02.2016
Heavy
VÖ: 25.09.2009