Ausgerechnet im Hardcore, wo die Konzerte von oben schon mal aussehen wie eine Bud-Spencer-und-Terence-Hill-Convention, rechnet man nur selten mit Platten, die einen erschlagen. Trainingslager für die Gigs, ja, kompakt formulierte Botschaften und Lebensanleitungen in Mittagspausenlänge. Aber nichts wie “Wildlife”. Das zweite Album von La Dispute aus Grand Rapids,Michigan besteht aus 14 Kurzgeschichten und der Geschichte des Geschichtenschreibers als Rahmenhandlung, es gibt vier an den Hörer adressierte Monologe und damit einen Überbau wie sonst höchstens bei Bands, deren Namen hier gar nicht genannt sollen, weil sie nur abschrecken würden. Mathrock und eine Schwäche für Extraschleifen haben vor drei Jahren schon zum La-Dispute-Debüt gehört. Der Nachfolger nun zieht noch ein paar Schrauben nach, bündelt und verfeinert die Stärken und lässt die Verspieltheiten dort weg, wo La Dispute noch nach den Kindern klangen, die sie ja eigentlich sind.
“Wildlife” ist also zunächst mal vor allem beeindruckend, ein ernsthaftes, dicht gepacktes 57-Minuten-Album ohne Refrains oder Verschnaufpausen, auf dem kein Song dort endet, wo er angefangen hatte. Die Stücke haben wenig Luft, die einzelnen Teile sind streng und komplex strukturiert, die Übergänge meistens fließend. Und Jordan Dreyer singt fast immer, er ist präsent im doppelten Wortsinn, aber er ist nicht außer Kontrolle, nicht mal wenn sich sein Gesang überschlägt, was er ohnehin fast immer tut. Dreyer ist gesegnet mit einer gesunden Grundhysterie, die schon reichen könnte im Hardcore, aber er arbeitet auch an und mit seiner Stimme, macht sie vor allem in den Sprechpassagen zum dritten Rhythmusinstrument und zwingt umständliche Formulierungen in freie Versmaße, ohne das Schwierige daran auf dem Hörer abzuladen. Es ist ein bisschen blöd, die gesungenen Worte auf “Wildlife” zu zählen, aber auch verlockend, und ja, es sind fast 6.000, und nein, Dreyer hat kein einziges davon zu verschenken.
“Wildlife” handelt von Inspiration und Schreibblockaden, Krebs und Grammatik, Religion, Ratlosigkeit und Bandenkriminalität; es ist mehr Michael Moore als Sufjan Stevens in der Sicht auf seine Kleinstadt in Michigan, es funktioniert aber auch, wenn einen das alles gar nicht interessiert. “Edit Your Hometown” blamiert Billy Talent selbst ohne Blick aufs Textblatt, “Harder Harmonies” bietet At The Drive-In die Stirn, “A Broken Jar” kann sich das Flamenco-Gitarrensolo gerade noch verkneifen, und “King Park” spätestens führt einen ganz automatisch zu den Dingen, auf die es wirklich ankommt. Die wahre Geschichte eines Drive-by-Shootings und seiner Kollateralschäden steckt so voller Details und Perspektivwechsel, die sich perfekt mit der lautmalerischen Musik dazu ergänzen, dass man den Song besser gleich mit der Fernsehserie “The Wire” als mit irgendeiner anderen Rockband vergleicht. La Dispute bleiben selbst hier standhaft im eigenen Sturm; auf dem Höhepunkt ihrer Platte dürfen sie deshalb auch mal eine Frage stellen, zu der sie keine Antwort wissen. “Can I still get into heaven if I kill myself?” Das muss immer noch Brian Fallon entscheiden.
weitere Platten
Here, Hear IV
VÖ: 12.03.2024
Panorama (Remixed)
VÖ: 25.12.2019
Panorama
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Tiny Dots (Soundtrack)
VÖ: 16.04.2016
Rooms Of The House
VÖ: 21.03.2014
Somewhere At The Bottom Of The River Between Vega And Altair
VÖ: 11.11.2008