Für manche ist Venedig eine neblige Hafenstadt, für andere eine verzaubernde Zeitkapsel. Andy LeMaster ist nur nebenberuflich Teil der Bright Eyes. Sein Hauptprojekt heißt Now It’s Overhead und besteht aus ihm, seinem Freund Clay Leverett sowie den beiden labelverwandten Damen von Azure Ray. Schon mit ihrem Debütalbum sorgten die vier für kleine Wellen: Eingängige und doch unkonventionelle Songs sorgten für Hoffnung auf Alternativen in der Popmusik. Diese wird nun erfüllt. Selten begegnet einem ein derart eigenartiges Album wie “Fall Back Open”. Tagelang ist man zunächst beschäftigt, mit der Atmosphäre klarzukommen. Irgendwo im diesigen Nebel zwischen Wave und Country schweben die neun Kompositionen und sind einfach nicht einzuordnen. Zwar variieren sie in Nuancen durchaus zwischen eher treibender Dramatik (“Wait In a Line”, “Surrender”), folkiger Hoffnung (“Turn & Go”, “The Decision Made Itself”) und Melancholie (“A Little Consolation”), ihr Eigenleben aber scheint letztlich zweitrangig im Kontext dieses schlüssigen, atmosphärischen Werkes ohne wirklichen Anfang und richtiges Ende. “Fall Back Open” wirkt wie eine Welt für sich, in die man jederzeit abtauchen kann, und ist, wenn überhaupt, vergleichbar mit dem hypnotischen, aufgewühlten Frühwerk von The Cure. Markanter Höhepunkt: Neben dem obligatorischen Auftritt von Bright-Eyes-Kopf Conor Oberst segnet R.E.M.s Michael Stipe den sanft rebellierenden Gänsehautsong “Antidote”, nur kurz bevor “A Little Consolation” mit tollen Melodien und Rhythmen würdevoll zusammenfasst, was es in der Gitarrenmusik immer geben muss: eine Alternative, die den ganzen Konsensschrott nicht bewusst ablehnt, sondern ihn vergessen lässt. Selbst der sonst stimmlich so präsente Stipe wirkt wie eine Fußnote im Kontext einer Band, die ungefähr so funktioniert wie ein rasender, hervorragend isolierter Fluchtwagen: Chaos hinter, vor und neben einem, drinnen aber ist man schnell so weit weg, dass man sogar heimlich Umwege fährt, um ja nicht irgendwo anzukommen. Als Gustav von Aschenbach in Thomas Manns “Tod in Venedig” nach mehreren Abreiseversuchen beschloss, in seiner so geliebten Stadt zu bleiben, obwohl wegen des einzigartigen Klimas Unheil grassierte, geschah das aus den gleichen Gründen, die Menschen bewegen werden, beim Hören von “Fall Back Open” auf ‘Repeat’ zu drücken.
weitere Platten
Dark Light Daybreak
VÖ: 08.09.2006
dto.
VÖ: 01.12.2003