Warum das so ist, zeigt das eröffnende Doppel aus dem Titelsong und dem folgenden “Komm mit in meine freie Welt”. Ersteres ist eine feinfühlige Ballade, letzteres krachender Indierock. Wer nur die Titel liest, hätte es vermutlich genau umgekehrt vermutet. Es ist nicht das einzige Mal, dass Tocotronic, die alten Trickser, diesen Kniff anwenden. So wie bei “Ich hasse es hier” etwa: Musikalisch ist der Song beschwingt und geradezu fröhlich, im Text singt von Lowtzow dagegen von einer Trennung, der Einsamkeit, die sie mit sich bringt, und der daraus folgenden Dunkelheit, in der dann nur noch das Tiefkühlfach Licht spendet. Überhaupt sind von Lowtzows Texte auf diesem Album sehr spielerisch, gerne ironisch und oft auch so offenherzig wie es seine frühen Lyrics waren. Sprachlich bereichern Tocotronic Indierock dabei um Worte, die man eigentlich für so wenig singbar hielt, wie über Sex auf Deutsch zu singen: “Sanifair”, “Coupon”, “Drehkreuz”, “aufpeppen”, “Schlund” oder auch “lädiert” sind nur einige Beispiele dafür. Im Interview mit VISIONS sagen Tocotronic, sie hätten das Gefühl, der Titel ihres 13. Albums könnte eine Fortsetzung von “Kapitulation” sein. Noch zutreffender ist vielleicht, dass Tocotronic mit den Stücken auf “Nie wieder Krieg” einige ihrer Songs und deren Motive fortführen. Man kann sich gut vorstellen, dass die “Jugend ohne Gott gegen Faschismus”, von der die Rede ist, die gleiche ist, die sich “das selbst aufgebaut hat”, wie es in “Let There Be Rock” hieß. Früher träumte von Lowtzow davon, er wäre Pizza essen mit Mark E. Smith
, heute scheitert er daran, eine Tiefkühlpizza mit Kräutern der Provence aufzuwerten. Zugleich betreten Tocotronic in ihrem dritten Karrierejahrzehnt noch mal Neuland. “Ich tauche auf” ist der erste Song der Band, in dem ein Gast auftritt. Anja Plaschg alias Soap&Skin gelingt im Duett mit von Lowtzow ein fantastisch abgründiges Lied, das Tocotronic erst ganz am Ende des Albums mit dem bereits bekannten Lockdown-Trostspender “Hoffnung und Liebe” kontern. Deshalb lässt sich “Nie wieder Krieg” auch als große Erzählung sehen, als Panoptikum der verschiedenen Stadien einer Liebe: dem Wahn und der Paranoia, dem Sturm der Hormone, der bei Frischverliebten durch den Körper wirbelt und doch nur vorübergehend ist. Am Ende dieser Erzählung steht dann wieder die Hoffnung auf eine neue Liebe, ein neues Leben. Zeit zu kapitulieren ist jetzt jedenfalls nicht, schon gar nicht vor den Erwartungen der Fans.
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