Turbostaat
Alter Zorn

Fangen wir vorne an, auf dem Cover: Der grinsende Mann in Lederjacke und Hawaiihemd ist der junge Moses Schneider als etwa 30-jähriger Punk. Also noch vor seiner Zeit als Produzent, dem unter anderen Tocotronic, Beatsteaks und Turbostaat vertrauen. Seit dem dritten Album “Vormann Leiss” (2007) produziert Schneider jede Platte der einst in Husum gegründeten Band.
Somit ist er mitverantwortlich für das typisch tiefe Poltern in Turbostaats Sound, das auch “Alter Zorn” zugrunde liegt, wenn Bass und Schlagzeug sich nahtlos ineinander verzahnen, die Gitarren angriffslustig und zugleich verspielt klingen und Jan Windmeier die metaphorischen Songzeilen singt, die Gitarrist Marten Ebsen schreibt. Windmeier wird seine Art, mit latenter bis unverkennbarer Wut zu singsprechen, und damit jeden Turbostaat-Song zu prägen, nicht mehr ändern. Wer damit also (nach wie vor) ein Problem hat, der sollte weiterziehen und “Tage wie diese”-Punk hören. Wer bleibt, muss mit der grellen Sommerkotze in “Subraum” leben, das den Finger in die Wunde legt, ohne auf jemanden zu zeigen: „Dein Schmerz hat einen Namen/ Doch wir sprechen ihn nie aus.“
Typisch Turbostaat: Ihre Songs sind zwar persönlich oder gesellschaftskritisch, aber nie explizit; sie spielen mit assoziativen Bildern. Ebenfalls kennzeichnend ist das Spiel mit Härte und Melodie, das etwa im überragenden “Nachtschimmel” wunderbar aufgeht. Ein Song, in dem vor allem Windmeier von der ersten Sekunde an Unbehagen verbreitet: „Hörst du das Polterherz/ Boden wankt, Luft wird knapp/ Kloß im Hals, Fell im Maul, Kribbelhand/ Star sitzt er da/ Und er mustert ganz genau/ Bewegung auf dem Markt/ Und er wittert seine Chance.“ Mit dem Refrain öffnet sich der Song melodiös und mit Gitarren, die nicht nur hier kleine Wunderwerke vollbringen: „Und die ganzen harten Lappen/ Können wieder nichts dafür/ Es ist einsam hier/ Ohne dich.“
Darüber hinaus hält “Alter Zorn” ein paar kleine musikalische Überraschungen bereit, etwa den gesungenen Refrain im teils sanftmütigen “Isolationen”, die schrägen Schreie und Geräusche in “Den Annern sin Uhl” oder das nachdenklich eröffnende “Winograd”, das kurz darauf mit einem Polterbeat ausbricht. Turbostaat sind auf “Alter Zorn” maximal aufgewühlt und malen dunkelgrau, ihre namenlosen Protagonisten stürzen in “Otto muss fallen!” eine Bismarck-Statue und fahren im rasenden “Mutlu” „einen Panzer über alles, was ihn stört/ Über jeden, der ihn nervt.“
Am Ende eint sie vielleicht die Verlorenheit in dieser komplizierten Welt, die Turbostaat zeichnen. Im finalen “Jedermannsend” geht es um den kaum gesellschaftsfähigen Umgang mit Trauer, Windmeier zerreißt die Wörter in den Strophen fast und singt im Refrain: „Und jedes Wort war von Anfang an klar/ Nur ein Schiss im Meer, doch es schwimmt dir hinterher/ Und jeder Satz falsch und jeder Blick kalt.“ Wenn das tiefe Wummern des Songs noch nachhallt, lächelt man zwar nicht wie der junge Moses Schneider, weiß die jahrelange Zusammenarbeit dieser sechs Altpunks aber sehr zu schätzen.
DNA:
Muff Potter – “Bei aller Liebe” (2023, Huck’s Plattenkiste)
13 Jahre nach ihrer Bandauflösung kehren Muff Potter mit diesem wahnsinnig guten und pointierten Album zurück. Sänger und Gitarrist Thorsten Nagelschmidt textet in “Ein gestohlener Tag” ähnlich assoziativ und bildhaft wie Turbostaats Marten Ebsen und mit Felix Gebhard erhält der Sound neue Facetten, insbesondere was die vielseitigen Gitarren betrifft.
Blackmail – “Tempo Tempo” (2008, City Slang)
Nicht nur auf ihrem sechsten Album vollziehen Blackmail das Zusammen- und Wechselspiel von Melodie und Härte nach allen Regeln der Kunst. Die drängelnde Dringlichkeit und Kurt Ebelhäusers aufgekratzte Gitarrenfiguren auf “Tempo Tempo” sind ähnlich grandios wie auf Turbostaats neuem Album, auch wenn Blackmail-Sänger Aydo Abay ganz anders damit arbeitet als Jan Windmeier.
Oma Hans – “Peggy” (2005, Schiffen)
Auch auf die Gefahr hin, dass die Jens-Rachut- und Dackelblut-Vergleiche nerven: Die Art, wie Windmeier singsprichtschreit, ist der Rachuts schlicht zu ähnlich, um es hier nicht zu erwähnen. Das ist auch bei Oma Hans so, etwa in “Gummiwände” oder “Der Kreisverkehr”, auch wenn der treibende Punkrock von Oma Hans eher nach den ersten beiden Turbostaat-Alben klingt.
Zweitstimme:
Florian Schneider: „Gut fand ich Turbostaat eigentlich immer, nur tief berührt hat mich die Band bislang nicht. Das ist bei ‘Alter Zorn’ anders. Immer wieder tritt der Tod in den Zeilen von Ebsen auf und tippt einem auf die Schulter, wenn man es am wenigsten erwartet. Groß.“
Jonas Silbermann-Schön: „Auch wenn manche Zeilen für mich immer noch zu verklausuliert sind: Wie Turbostaat Niedergeschlagenheit und Aufbruchsstimmung gleichzeitig auf den Punkt bringen, sucht auf ‘Alter Zorn’ seinesgleichen.“
weitere Platten
Uthlande
VÖ: 17.01.2020
Nachtbrot
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Abalonia
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Stadt der Angst
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Vormann Leiss
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Schwan
VÖ: 24.11.2003
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VÖ: 30.11.1999