Karl Hyde und Rick Smith sind Schöngeister. Das ist nichts Neues. Doch so massiv wie auf dieser Platte war der Wunsch nach lächelndem Wohlklang, verzaubernden Flächen und weltumarmenden Melodien noch nie. “A Hundred Days Off” ist zeitlose Zeitgeistmusik par excellence, die dem Hörer mannigfaltige Kopfkinos vor das geistige Auge zaubert. Man denkt an ruhige Seen, Sonnenuntergänge, Frühlingswiesen und Morgentau, an lange nächtliche Autofahrten, vorbei huschende Straßenlaternen und gute Gespräche mit dem Beifahrer, aber auch an wild tanzende Menschenmassen, fette Drogenräusche und den kompletten Verlust jeglicher Kontrolle. Rick Smith baut Soundscapes von unfassbarer Eleganz, spielt mit Tempi, Beats, Intensität, Dynamik und der Macht einer massiven Bassdrum, während Karl Hyde seine vor Sünde, Sex und Sinnlichkeit triefenden Gesangslinien über den Hörer schüttet. Mehr noch als auf den vorangegangenen Alben sind diese zehn Tracks echte Songs im klassischen Sinne, mit Aufbau, Struktur, Anfang und Ende. Ja, es ist ihre durchdachteste und vielseitigste Platte, was gleichzeitig auch der einzige kleine Kritikpunkt ist – manchmal klingt ihre virtuose Beatkunst fast zu rund, und gerne hätte es auch noch ein, zwei massive Stomper vom Schlage “Born Slippy” oder “Push Upstairs” mehr geben dürfen. Doch abgesehen davon ist dieses Werk sehr nah an der perfekten Verbindung von Couch- und Club-, Pärchen- und Sommer-, Träum- und Tanz-, Hippie- und Yuppie-, Underground- und Popmusik. Die hohen Erwartungen wurden erfüllt: eine der besten Elektronik-Platten des Jahres.
10/12 Sascha Krüger 10
Zugegeben, Eminem nahm mit Moby das falsche Ziel im Visier – sein Ausspruch “nobody listens to techno” im Hit “Without Me” birgt dennoch mehr als ein Fünkchen Wahrheit. Hätte er ihn mal besser auf Underworld gemünzt. Denn der Erfolg, den die britischen Klangschrauber ab Mitte der Neunziger hatten, speiste sich aus einer glücklichen `richtige Zeit, richtiger Ort`-Konstellation und verdeckte stets die bittere Wahrheit: Underworld waren nie die besten, sondern lediglich die kompatibelsten. Mit Heerscharen von Gitarren-Goutierern im Rücken, die genau eine Techno-CD, nämlich “Second Toughest In The Infants”, besitzen, hat man natürlich alle Trümpfe in der Hand, doch mit der Akzeptanz sank auch hier die musikalische Relevanz: In guten Momenten klingt “A Hundred Days Off” wie ein Selbstplagiat, in schlechten wie eines dieser unzähligen namenlosen Projekte, die zwei Wochen lang der heiße Scheiß auf Ibiza sind, bevor sie die triste Wirklichkeit einer Offenbacher Einzimmerwohnung wieder einholt. Den Versuch, sich stellenweise mehr an klassischen Songwriting-Strukturen zu orientieren, in allen Ehren, aber muss man dafür auch Don`ts wie Fade-Outs mitten aus dem Geschehen adaptieren? Wohl kaum. Sicher kann eine musikalische Expedition sehr reizvoll sein, doch hier wirkt es so, als wüssten die Herren Forscher nicht, was zur Hölle sie eigentlich suchen.
4/12 Ingo Neumayer
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