Wie kann man zuverlässig feststellen, wie cool die eigene Band wirklich ist? Im Falle von White Lung ziemlich simpel: Man klaut einfach die Bassistin einer anderen coolen Band. Oder man leiht sie sich zumindest aus. Weil die Frau mit dem schönen Namen Hether Fortune gerade nicht mit ihrer eigenen Band Wax Idols auf Tour oder im Studio ist, stellt sie sich und ihre Dienste bis auf Weiteres dem Trio aus Vancouver zu Verfügung. Gerade bei den Liveauftritten zahlt sich das jetzt schon aus. Fortune steht stoisch am rechten Bühnenrand, schüttelt ab und zu die kurze blondierte Frisur und geht ansonsten so beharrlich zu Werke wie ein Dockarbeiter mit dem Bolzenschussgerät. Vielleicht hat das mit ihrem Nebenjob als Domina zu tun. Angeblich muss man sich in dieser Branche auch dann das Lachen verkneifen, wenn der schmerbäuchige Banker mit dem Windelfetisch die Sonderwünsche äußert. Außerdem muss man gerne die Peitsche schwingen – und das können White Lung verdammt gut.
Die drei beziehungsweise vier Kanadier existieren als Band schon seit acht Jahren, von ihrer Existenz wissen bisher aber vor allem die Backstagewände in weit verstreuten Undergroundschuppen. An der Musik hat sich seitdem gar nicht mal so viel verändert, statt wirklich reifer ist sie vor allem raffinierter geworden. Gleichzeitig sprechen wir hier vor allem von einer ästhetischen Entwicklung, denn auf dem Papier sind die Songs allesamt aufreizend simpel aufgebaut. Da wäre erstens die Gitarre von Kenneth William, die in hohen Tonlagen und Geschwindigkeiten ungefähr das macht, was Johnny Marr mit seiner Gitarre auch immer gemacht hat. Das Geräusch, was dabei herauskommt, klingt etwa wie ein Auto, das auf seinen Felgen 180 km/h fährt und daran im Prinzip auch nichts problematisch findet. Schlagzeugerin Anne-Marie Vassiliou trägt das Pünktchenkleid einer französischen Dorfschönheit, geht ansonsten aber mit ihrem Drumset um wie ein Preisboxer mit der Laufkundschaft. Die Geschwindigkeit auch hier: halsbrecherisch. In den durchschnittlich zwei Minuten, die ihr pro Song bleiben, setzt Sängerin Mish Way dann noch ein paar Vocals drauf, mit denen man eine Nebelbank zerteilen und gleichzeitig Courtney Love schmeicheln könnte. Andere Bands mögen von der fein abgestimmten Dynamik ihrer Longplayer reden, White Lung dagegen kennen nur den Vollgasmodus.
Was die neue Platte besser macht als zum Beispiel das fast so tolle Vorgängeralbum “Sorry”, sind erstens die bessere Produktion und zweitens die besseren Songs. Jeder Titel auf Deep Fantasy hat mindestens einen Angelhaken mehr im Maul des Melodiekarpfens, als man das von derart aggressiver Musik verlangen dürfte – auf pures Gebolze oder Kraftmeierei läuft es nie komplett hinaus. Im Gegenteil: An seinen Zutaten gemessen klingt das Album geradezu filigran, schneidig und kopfhörerkompatibel. Auf ihrer Mission einen neuen Weg zur Kanalisierung von Lärm und Wut zu finden, sind White Lung tatsächlich fündig geworden. Das Geheimnis? Schwer zu sagen. Aber leicht herauszuhören.
weitere Platten
Premonition
VÖ: 02.12.2022
Paradise
VÖ: 06.05.2016
Sorry
VÖ: 29.05.2012
It's The Evil
VÖ: 15.06.2010