Album der Woche

Weite Oase

VÖ: 22.11.2024 | Label: Stickman
Text: | Erschienen in: VISIONS Nr. 381
Weite - Oase

Kaum hat man die Cleverness dieser Songs bemerkt, ist sie auch schon wieder egal. Sich einfach von großen Melodien und epischer Atmosphäre mitnehmen lassen oder an diesem musikalischen Zufluchtsort sitzenbleiben und zusehen, wie die Sonne im Kosmischen Ozean versinkt – das ist das Gebot von “Oase”.

Das zweite Album von Weite ist ein fein gesponnenes Netz aus Kraut- und Psychedelic-Rock sowie eine Hommage an den jazzigen Canterbury Rock von Bands wie Soft Machine, Egg oder National Health. Allein dieser Umstand zeigt, mit welchem Grad von Nerdtum Bassist Ingwer Boysen (Delving), Nick DiSalvo (Elder, Delving), Michael Risberg (Elder, Delving), Ben Lubin (Lawns) und Fabien de Menou (Perilymph) auf ihre Band schauen. Es ist der Clash aus Düsseldorf und Chicago, Weserbergland und Wüste von Nevada, der Weite antreibt. Sie treffen sich im Abendrot, wo Michael Rother Grobschnitt gute Nacht sagt, sie sitzen im Berliner Späti zusammen und philosophieren über den Einfluss von Edgar Froese auf John McEntire, hören The Sea And Cake gefolgt von Gilgamesh und greifen in den frühen Morgenstunden bei geschärftem Verstand zu ihren Instrumenten.

“Versteinert” beginnt mit einer elegischen Melodie, die Takte überschreitet, den Hörer aber dennoch hineinbittet. Der rhythmische Aufbruch, gespickt mit Neu!-Zitaten und progrockigen Wendungen gerät geradezu euphorisch, die musikalische Einheit favorisiert niemanden im Kollektiv. Während sich “Time Will Paint Another Picture” um eine Mellotron-Flöten-Phrase entspinnt, erstrahlt ein Melodiebogen, der auch auf Caravans epochalem “In The Land Of Grey And Pink” Platz gefunden hätte. Am besten kommt Weites Idee von Kosmischer Musik im Longtrack-Verbund aus “(einschlafphase)” und “Roter Traum” zum Ausdruck, einer Reise durch Post-Rock und Tangerine Dream-Soundscapes. Nach knapp sieben Minuten kontemplativen Aufbaus bäumt sich die Band mit himmelstürmenden Gitarrenmelodien und klirrender Hammondorgel zu einem Crescendo auf, das Pink Floyd in ihrer instrumentalen Frühphase die Eifersuchtsröte ins Gesicht getrieben hätte. Doch selbst nach diesem Höhepunkt setzt das Stück erneut an, um sich zu einer repetitiven Synthiemelodie erneut zu steigern.

Weite setzen auf “Oase” ihre vielschichtige Vision wesentlich konzentrierter um als noch auf dem wortwörtlich konstituierenden Feldversuch “Assemblage”. Melodie und Song werden zur Leitschnur, wie das liebliche Zwischenspiel “Woodbury Hollow” demonstriert. Der trippige Zehnminüter “Eigengrau” walzt mit einem psychedelischen Chaos aus Störgeräuschen und kaputtem Bluesriff durchs Bild, nur um sich auf der Hälfte in ein rhythmisch komplexes Pattern zu transformieren und erneut eine von Jazz und Folk geformte Melodie auszubreiten, die schimmernd als Unisono-Passage zwischen Gitarre und Keyboard über dem Song schwebt. An dieser Stelle gibt es schließlich keinen Zweifel mehr: Der Tag hat begonnen, und die Sonne erhebt sich gemächlich über der “Oase”. “The Slow Wave” kündet zurückgenommen und etwas verpennt den Aufbruch an. Und während Eskapisten die letzten eindringlichen Melodien mit der Morgenluft einsaugen, ihr Leergut einsammeln und mit einem stürmisch rockigen Finale aus dem Laden katapultiert werden, freuen sie sich schon auf die nächste Session.

DNA:

Tortoise“TNT” (1998, Thrill Jockey)

Jede Generation bringt Superfans von Kraut- und Psychedelic Rock hervor. John McEntires Band stand in den 90ern wie keine zweite für die Fortschreibung von Motorik und Kosmischer Musik, kombiniert mit Jazz und Elektronik. Eine große Scheibe von seiner Sensibilität in Sachen songdienlicher Rhythmik und Präzision hat sich Nick DiSalvo für sein Spiel bei Weite abgeschnitten.

Tangerine Dream – “Cyclone” (1978, Virgin)

“Cyclone” war für Edgar Froese und Christoph Franke das erste Experiment mit Gesang und einem neuen Bandmitglied. Multi-Instrumentalist Steve Jolliffe forderte den Sound von Tangerine Dream heraus und transformierte den sphärischen Habitus zu neuer Dringlichkeit an der Schwelle zu den 80ern. Ohne “Cyclone” kein “Force Majeure”, und wer weiß, was auf “Oase” folgt.

Hatfield And The North – “The Rotters Club” (1975, Virgin)

Stellvertretend für die kleine Welt des Canterbury Rock, mit all ihren ineinander verschränkten Line-Ups, kann das zweite Album der Band um Phil Miller (Matching Mole), Pip Pyle (Gong) und Richard Sinclair (Caravan) als Fundament für all die grandiosen Melodien ins Feld geführt werden, die Michael Risberg und Fabien de Menou unisono durch die Oase gleiten lassen.

Zweitstimmen:

Juliane Kehr: “Weite ist auf “Oase” das für Instrumentalalben wichtigste Kunststück gelungen: Dynamisch subtil, mit leisen Tönen und Songs weit jenseits der Fünf-Minuten-Marke die Aufmerksamkeit der Hörenden fesseln und nur mit den Basis-Instrumenten des Rock eine Geschichte erzählen.”

Florian Schneider: “Meine Erwartungen waren gering, zu jammig und ziellos klang “Assemblage”. Auch “Oase” nimmt sich Zeit, bis die einzelnen Songs ins Ziel kommen. Auf dem Weg dorthin haben Weite aber viel zu erzählen. Das ist Musik wie eine Meditation: Wer sich Zeit dafür nimmt, wird reich belohnt.”

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